Das Dorf Die
hochsommerliche Mittagssonne brannte heiß und erbarmungslos über den ockerfarbenen
Getreidefeldern einer grenzenlos einsamen Unendlichkeit. Lediglich ein
verirrter Mäusebussard drehte verloren seine Runden über den Äckern des
schon seit Jahren vergessenen Landes, wo ewige Stille und Leere nicht
nur diesen Sonntag, sondern auch den Rest der Woche dominierten. Die
Bäuerin hielt inne und ließ den Blick über die Roggenfelder schweifen.
Wie die anderen Frauen auch, hatte sie schon häufiger Getreide gestohlen.
Darauf stand zwar die Todesstrafe, doch selbst die größte Patriotin wurde
gelegentlich vom Hunger überwältigt. Johanna - so hieß die Bäuerin - wusste,
dass der Diebstahl von Getreide immer auch als Verrat an den eigenen Soldaten
und als ein Sieg für den Feind angesehen wurde. Staub. Nichts als Staub ist vom Leben geblieben. Die Männer waren nun schon seit Jahren fort. Die Söhne folgten ihnen, noch bevor sie erwachsen wurden. Die Mädchen alterten um Jahrzehnte. Das letzte Kind hatte Ramona ausgetragen - die Tochter des evangelischen Pfarrers. Sie war mit gerade einmal zwölf Jahren von einem fünfzehnjährigen Taugenichts geschwängert und anschließend sitzen gelassen worden. Ramona hatte das Kind gleich nach der Geburt erstickt. Es war ein Junge gewesen. Sie wollte nicht, dass auch er irgendwann zum Soldaten wird. Ein paar Wochen später erhängte sie sich in der Kirche. Ihrem Vater, der als Feldprediger an der Front diente, hatte sie einen Abschiedsbrief hinterlassen, der im Wesentlichen aus nur wenigen Worten bestand: "Wir alle sind Opfer dieses Krieges!" Die
Frauen aus dem Dorf hatten beschlossen, diesen Brief umgehend zu vernichten
und auf gar keinen Fall an den Pfarrer weiterzuleiten. Solche negativen
und zersetzenden Parolen durften niemals öffentlich Verbreitung finden!
Diese Form der Schwäche und des Versagens würde nicht zuletzt auch dem
Ansehen der anderen Dorfbewohnerinnen schaden. Man könnte sogar auf den
Gedanken kommen, dass ein mutmaßlich unpatriotisches Umfeld solche Meinungen
und Geschehnisse begünstigt beziehungsweise gar erst ermöglicht hätte.
Ramona war zwar noch ein halbes Kind und sich der Konsequenzen ihrer Tat
vermutlich gar nicht bewusst gewesen. Dennoch: Die Frauen im Dorf trugen
eine kollektive Verantwortung und hatten somit ein gehöriges Maß an Schuld
auf sich geladen. Johanna schüttelte missmutig den Kopf und trottete mir
gesenktem Blick weiter. Die Straße war übersät von Schlaglöchern und losem
Gestein, so dass schon ein kleiner Moment der Unachtsamkeit einen verstauchten
Knöchel nach sich ziehen konnte. Johanna war immerhin schon dreiundsechzig
und von der harten Arbeit auf den Feldern schwer gezeichnet. Die Frauen
wurden nicht sehr alt. Lediglich die hoch betagte Rosi schien mit Gevatter
Tod darum zu ringen, ihren achtzigsten Geburtstag im nächsten Frühjahr
noch erleben zu dürfen. Sie war die Älteste im Dorf und jeder wusste ihre
weißen Ratschläge zu schätzen; ganz gleich, ob es sich um Fragen der dörflichen
Arbeitsorganisation, um Haushaltsangelegenheiten oder um Hilfe bei seelischen
Problemen handelte. Inzwischen
hatte auch Rosi einen Großteil ihrer Energie und Lebensfreude eingebüßt.
Das Haar war über die Jahre hinweg schneeweiß geworden und die einst kraftvolle
Stimme klang nunmehr brüchig und rau. Johanna empfand eine tiefe Abneigung
gegen dieses alte Weib; diese neunmalkluge Person, die als einzige nicht
mehr zu harter Arbeit herangezogen wurde. Anstatt stets mit irgendwelchen
schlauen Ratschlägen aufzuwarten, könnte sie vielmehr selbst einmal wieder
mit Hand anlegen. Gegen ein paar häufigere Ruhepausen aufgrund ihres hohen
Alters hätte sicherlich niemand etwas einzuwenden. Doch die ganze Zeit
einfach nur im Sessel zu sitzen und sich durchfüttern zu lassen, durfte
trotz aller Verdienste kein Dauerzustand werden! Johanna zählte ja selbst
schon stolze dreiundsechzig Lenze und stand trotzdem gemeinsam mit den
anderen Frauen täglich zu früher Stunde auf, um bis in den späten Abend
hinein harte Arbeit zu verrichten. Sicher: Das Umgraben der kleinen Dorf-Äcker
und ähnliche körperlich höchst anstrengende Tätigkeiten blieben ihr inzwischen
weitestgehend erspart. Dennoch war das Abholen der Zuteilungen vom Bahnhof
Rosendorf alles andere als eine leichte Aufgabe, zumal die Ladefrauen
die Pakete meist einfach aus dem Waggon zu Johanna herab warfen. Zum Beladen
des Handwagens blieb dann meist nicht allzu viel Zeit. Sobald der Zug
den Bahnhof verließ, gab es keinen bewaffneten Schutz mehr und die
Rosendorferinnen stürzten sich vermutlich auf die schwache alte Johanna,
um ihr die Lebensmittel zu rauben. Der
Bahnhof befand sich gleich hinter dem Ortsschild auf der linken Straßenseite.
Er war dort das einzige Gebäude, da die Siedlung Rosendorf komplett rechts
der Fahrbahn lag. Um zur Laderampe zu gelangen, musste man etwa einhundert
Meter über einen schlechten Kiesweg zurücklegen, auf dem bei Regenwetter
die Handwagen regelmäßig stecken blieben. In solchen Fällen war stets
zu befürchten, dass einige Hilfspakete zurückgelassen werden mussten beziehungsweise
von den Rosendorfer Frauen gestohlen wurden. |